Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Willehad Groß Grönau

Trauerfeiern ohne Leichnam

Dr. Reinhard Eggers (Groß Grönau), Institut für Anatomie der Universität zu Lübeck

in: Körper ohne Leben, Begegnung und Umgang mit Toten, Norbert Stefenelli (Herausgeber), Böhlau-Verlag, Wien, 1998

Jahr für Jahr bestimmen fast zweihundert Menschen aus der südlichen Hälfte des Landes Schleswig-Holstein in einer testamentarischen Absichtserklärung, dass ihr Körper nach dem Tode dem Institut für Anatomie der Medizinischen Universität zu Lübeck für wissenschaftliche Untersuchungen und zur Ausbildung angehender Ärzte zur Verfügung steht. Diese Körperspender stammen aus allen sozialen Schichten, sind zwischen 18 und knapp 100 Jahre alt, gehören unterschiedlichen Religionen an und wagen diesen Schritt aus den unterschiedlichsten Motiven. Viele Angehörige unterstützen dieses Vorhaben, sind möglicherweise selbst Körperspender, andere sind mehr oder weniger dagegen, vielleicht nur, weil es ungewöhnlich ist.

Informationen darüber erhält nur, wer sich an das Institut für Anatomie wendet. Öffentliche Werbung wird bewusst unterlassen, damit die Anzahl der Körperspenden nicht weiter ansteigt. Mundpropaganda hat sich allerdings als sehr wirksam erwiesen. Aus den Absendern der Anfragenden kann man ablesen, wie die Information weitergetragen wird: über Gartenzäune hinweg oder am Mittagstisch im Altenheim. Besonders häufig sind aber Anfragen nach unserer Trauerfeier.

Verstirbt ein Körperspender, wird sein Leichnam möglichst bald zur Anatomie überführt. Ein Abschiednehmen von weit entfernt wohnenden Verwandten ist in der Kürze der Zeit oftmals kaum möglich, denn die Injektion der die Verwesung beendenden Flüssigkeit sollte möglichst kurz nach Eintritt des Todes erfolgen. Die Lagerung im großen Formalinbottich und die Präparation mit den Studenten ziehen sich dagegen über viele Monate hin. Da der Präparierkurs nur im Wintersemester stattfinden kann, werden die präparierten Leichname erst zwei bis drei Jahre nach dem Tod in einfachen Holzsärgen zum Krematorium überführt, eingeäschert und die Urnen beigesetzt.

Einmal im Jahr, im Frühsommer, findet unsere Trauerfeier statt. Eine Feier zum Gedenken an alle die Körperspender, die in den vorangegangenen zwölf Monaten beigesetzt wurden, eine Feier, zu der alle Angehörigen eingeladen werden, außerdem die Studenten und natürlich die Lehrenden aus dem Institut für Anatomie. Eine Trauerfeier ist nicht unbedingt üblich, wird aber von vielen Instituten für Anatomie in Deutschland in unterschiedlicher Form ausgerichtet. Das Spektrum reicht vom jährlichen Gedenkgottesdienst in der Universitätskirche bis zu einer kurzen Andacht am individuellen Grab während der Beisetzung des Körperspenders.Am verhältnismäßig jungen Institut für Anatomie in Lübeck hat sich nach kurzer Zeit ein formaler Rahmen entwickelt, der auf Anregung und mit aktiver Beteiligung der Studenten entstand. Der evangelische und der katholische Studentenpfarrer gestalten in der Friedhofskapelle einen Trauergottesdienst, in dem, im jährlichen Wechsel, der eine die Liturgie und der andere die Predigt übernimmt. Die musikalische Ausgestaltung liegt in den Händen der Studenten, die im vorangegangenen Wintersemester an den Leichnamen der Körperspender präpariert und gelernt haben. Aus dem Kreis dieser etwa 200 Studenten wurden schon Kammerorchester und Chor, Blasorchester und unterschiedlichste Besetzungen vom begleiteten Solo bis hin zum Oktett gebildet. In jedem Frühjahr finden sich von neuern junge Leute zusammen, um den Menschen ihren Dank abzustatten, die ihren Körper gaben, damit sie daran lernen können. Es ist wirklich beeindruckend, mit welchem Einsatz und Eifer die Zusammenstellung der Musiker, die Auswahl der Musikstücke und das Üben betrieben wird. "Die Trauerfeier entwickelt sich immer mehr zum Konzert mit Predigt", bemerkte scherzhaft einer der Studentenpfarrer.

Mit besonderer Spannung wird von den Angehörigen die Namensnennung verfolgt. Eingebunden in Fürbitten, die gemeinsam formuliert wurden, und die alle Anwesenden, Angehörige, Lernende und Lehrende, einschließen, werden die Namen der verstorbenen Körperspender von mehreren Studenten betont langsam verlesen. Jeder Gruppe von Namen werden dabei die Worte: "Wir danken und gedenken" vorangestellt.

Seinen Abschluss findet der Gedenkgottesdienst auf dem Grabfeld der Universität, zu dem wir, einen langen Trauerzug bildend, gemeinsam hinübergehen. Vor dem Gedenkstein, einem großen Findling, der die Aufschrift "DEN HELFERN DER ÄRZTLICHEN WISSENSCHAFT" trägt, wird für jeden Körperspender eine rote Rose niedergelegt. Es folgen Gebet, Vaterunser und Segen - und ein Musikstück.

Das Auseinandergehen fällt schwer, wenn so viele Menschen gemeinsam trauern, und bereits auf dem ungeordneten Rückweg zur Kapelle zeigen die Gesichter der Angehörigen, ihr Schweigen oder behutsames Sprechen, dass jeder Einzelne für sich aus dieser Gedenkfeier für vierzig, fünfzig oder sechzig Körperspender seine ganz individuelle Trauerfeier geformt hat.

Wozu dieser Aufwand? Ist es wirklich nötig, für die vor Jahren Verstorbenen, für die zerlegten Leichen einen solchen Aufwand zu treiben? Wem nützt ein solch spätes Gedenken, zumal kein Sarg, nicht einmal eine Urne an die Toten erinnert?

Aus zahlreichen Gesprächen mit Angehörigen, die eher seelsorgerischen als ärztlichen Charakter haben, weiß ich, wie sehr viele Hinterbliebene während des langen Zeitraums zwischen Tod und Beisetzung leiden. Der Verstorbene wird zwar als tot empfunden, ist aber noch nicht richtig tot, denn er befindet sich ja noch über der Erde. Dieses latente Sterben ist grausam. Die ungenaue Vorstellung, was hinter den verschlossenen Türen des Präpariersaals geschieht, belastet zusätzlich. Diese ganz spezifische Pein, die kaum nachvollziehbar ist für jemanden, der sie nicht erleiden musste, endet erst mit der Trauerfeier, Die innere Spannung löst sich, wenn die Angehörigen sehen und hören, dass die vermeintlichen Verursacher ihrer Nöte gemeinsam mit ihnen trauern und der Toten mit Würde und großem Ernst durch eigenes Engagement gedenken. Beim Anblick der vielen Mittrauernden im langen Trauerzug zum Grabfeld und in der großen Runde um den Gedenkstein festigt sich die Vorstellung, dass die Körperspende des Verstorbenen etwas ganz Besonderes und Wichtiges war.

Für die Studenten sind die aufgelegten Leichen im Präpariersaal Körper mit Nummern an der großen Zehe, natürliche Schaufensterpuppen mit modellartiger Konsistenz. Während der Trauerfeier erhalten diese anatomischen Präparate plötzlich und unerwartet menschliche Qualitäten. Nicht nur einen Namen, sondern auch Ehefrauen, die beim Nennen des Namens aufschluchzen, und Kinder, die den Blick senken. Plötzlich wird unzweifelhaft bewusst, dass der Körper, mit dem man sich so recht nicht anfreunden mochte, obwohl man ihn ein ganzes Semester lang fast an jedem Tag vor sich hatte, einem Menschen gehörte.

Den jungen Kollegen ergeht es ähnlich, wie den Studenten, sie zeigen ihre überraschende Erkenntnis nur nicht so offen. Und für die im Formalindunst ergrauten Anatomen ist die Trauerfeier mitnichten Routine geworden. Der Erkenntnisgewinn verlagert sich allerdings manchmal. "Kennen Sie die Cellistin aus einem Testat?" Kopfschütteln. "Ich schon. Wenn die doch nur halb so virtuos mit ihrem Wissen hätte umgehen können, wie mit ihrem Cello!" Eine solche Bemerkung täuscht Überlegenheit vor, ist aber nur ein Versuch, die eigene Betroffenheit zu vertuschen.

Und die eigentlich Betroffenen? Die Körperspender? Viele von ihnen möchten gar keine Trauer- oder Gedenkfeier. Vor allem deshalb, weil es ja doch nur eine "Massenabfertigung" sein kann, wie sie meinen. Sie lassen sich aber meist umstimmen mit dem Argument, dass die Angehörigen doch selbst entscheiden sollten, ob sie an einer Feier teilnehmen möchten oder nicht. Für andere wiederum ist es tröstlich zu wissen, dass sie nichtsang- und klanglos diese Welt verlassen, und dass die Familienmitglieder, auch die, die von weither anreisen müssen, doch noch am Grab Abschied nehmen können. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, dass sich die Urne bereits unter dem Rasen befindet.

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